Die zweite Auflage Ihres Buches „Vegetarische Ernährung“, die Sie zusammen mit Prof. Dr. Claus Leitzmann verfasst haben, ist 2010 erschienen und zog große Aufmerksamkeit auf sich. Wie haben Sie die Resonanz wahrgenommen?
Wir haben daran gesehen, dass die Zeit reif für das Thema Vegetarismus ist. Die erste Auflage, an der ich noch nicht beteiligt war, ist 1996 erschienen – das war eine ganz andere Zeit. Vegetarismus war im Kommen, aber nicht zu vergleichen mit der heutigen Bewegung. Es ist ein Fachbuch und somit nicht für den Durchschnittsverbraucher geschrieben. Wir haben es aber bewusst so verfasst, dass es auch interessierte Laien gut lesen und verstehen können. Das Buch verkauft sich sehr gut, was insbesondere bei einem Fachbuch wirklich erfreulich ist. Besonders freuen wir uns über die positiven Reaktionen der Leser, die wir beispielsweise auf Vorträgen treffen. Viele sind keine Fachleute, loben aber das Buch wegen seiner Verständlichkeit und auch den weiterführenden, globaleren Themen wie etwa Ernährung und Klimawandel. Offenbar trifft es gerade den Nerv.
Würden Sie in Deutschland von einem Trend zum Vegetarismus sprechen?
Das ist auf jeden Fall mein Eindruck, aber leider gibt es dazu keine harten Zahlen. Eine Forsa-Umfrage hat 2001 einen Vegetarieranteil von acht Prozent ermittelt, also etwa sechs Millionen Personen. Verschiedene Umfragen aus dem Jahr 2006 kamen auf einen Vegetarieranteil zwischen neun und elf Prozent. Dabei muss man allerdings beachten, dass sich unter den Befragten auch Menschen als Vegetarier bezeichnen, die eigentlich keine sind. Diese essen beispielsweise Fisch oder sehr wenig Fleisch und sind damit natürlich keine Vegetarier. Entsprechend halte ich Zahlen, die inzwischen von einem Vegetarier-Anteil von 11 bis 15 Prozent ausgehen, für wahrscheinlich zu hoch. Auf der anderen Seite betrug der Vegetarieranteil in der Nationalen Verzehrsstudie II, einer repräsentativen Erhebung des Ernährungsverhaltens in Deutschland, nur 1,5 Prozent, was ich wiederum auch für unrealistisch halte. Möglicherweise hing das mit der Auswahl der Befragten zusammen. Viele Vegetarier nehmen gerne an Ernährungsstudien teil, die sich beispielweise mit den Unterschieden zwischen vegetarischer und nichtvegetarischer Ernährung befassen - dieses Thema spielte in der NVS II praktisch keine Rolle. Die Ausbreitung der vegetarischen Lebensweise ist meiner Ansicht nach an vielen Stellen zu bemerken: Bei Amazon gibt es mittlerweile über 3.000 Ratgeber-Einträge zum Stichwort "vegetarisch", Fernsehköche kochen vegetarische Gerichte und auch in der Presse wird das Thema stark nachgefragt. Ich denke, dass das heute nicht nur ein Trend ist, der schnell wieder vergeht, sondern dass es sich um einen langsamen, aber langfristigen gesellschaftlichen Wandel handelt. Vegetarismus ist im Mainstream angekommen. Im Fazit unseres Buches kommen wir zum Ergebnis, dass der Vegetarismus die besten Aussichten hat, die Ernährungsform der Zukunft zu werden.
Betrachten Sie Vegetarismus generell als gesündere Ernährungsweise?
Als Ernährungswissenschaftler tue ich mich mit dem Begriff „generell“ immer schwer. Die Antworten sind selten so einfach und beginnen oft mit „Ja, wenn...“. In diesem Fall kann man sagen: Wenn man es richtig macht – und das ist nicht schwer – kann man klar sagen, dass eine vegetarische Ernährungsweise im Vergleich zur üblichen Durchschnittsernährung der Bevölkerung die gesündere Alternative ist. Das ist in vielen wissenschaftlichen Studien klar belegt. Wer sich vollwertig vegetarisch ernährt, hat viele Vorteile bei der Nährstoffversorgung und vor allem bei der Prävention von chronischen Erkrankungen. So haben Vegetarier im Vergleich zu Nichtvegetariern ein deutlich geringeres Risiko für Übergewicht, Diabetes Typ 2, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verschiedene Krebsarten. Selbstverständlich kommt Vegetariern dabei zugute, dass sie meist auch sonst gesundheitsbewusster leben, also beispielsweise seltener rauchen und mehr Sport treiben. Diese Einflussfaktoren werden in den Studien jedoch berücksichtigt, sodass ein erheblicher Teil des Gesundheitsvorteils auf die vegetarische Ernährungsweise zurückzuführen ist.
Fleisch enthält gut verwertbares Protein und Eisen, sowie Vitamin B12. Haben bei bestimmten Nährstoffen die pflanzlichen Lebensmittel einen Vorteil?
Es gibt viele Nährstoffe, die wir fast ausschließlich über pflanzliche Lebensmittel aufnehmen, wie zum Beispiel Vitamin C, Vitamin E oder Folsäure. Umgekehrt sind im Fleisch keine Nährstoffe enthalten, die wir nicht auch über Pflanzen aufnehmen könnten. Ein Sonderfall ist das Vitamin B12, das nur in tierischen Lebensmitteln, also auch in Milchprodukten und Eiern vorkommt. Wichtig sind auch die sekundären Pflanzenstoffe, die, wie der Name schon sagt, nur in pflanzlichen Lebensmitteln enthalten sind. Diese Substanzen schützen uns beispielsweise vor oxidativen Schäden, die durch freie Radikale verursacht werden. Bei diesen Prozessen kommt es zu Zellschäden, die die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs fördern und den Alterungsprozess beschleunigen.
Warum ist Vitamin B12 ein Sonderfall?
Bei der veganen Ernährung ist Vitamin B12 das klassische Problem-Vitamin. Pflanzliche Lebensmittel enthalten kein Vitamin B12, auch wenn im Internet teilweise noch immer anderes behauptet wird. Manche pflanzlichen Lebensmittel können Spuren von Vitamin B12 enthalten, zum Beispiel fermentierte Lebensmittel wie Sauerkraut oder Tempeh. Damit kann ich aber keine sichere Versorgung mit Vitamin B12 sicherstellen. Dies kann ich jedoch über angereicherte Lebensmittel, wie zum Beispiel Säfte, Frühstücksflocken oder Sojamilch. Leider gibt es solche Produkte nicht im Bio-Bereich, da dort keine Vitamine zugesetzt werden dürfen. Eine andere Alternative sind Supplemente, also die Einnahme in Tablettenform. Auch Lakto-Ovo-Vegetarier sollten ihren Vitamin-B12-Status im Blick behalten, vor allem wenn sie sehr wenig Milch- und Eiprodukte verzehren. Das mag für manche nach Mangelernährung klingen. Tatsache ist aber, dass Veganer und Lakto-Ovo-Vegetarier bei vielen Nährstoffen deutlich besser versorgt sind als Mischköstler, etwa mit Folsäure, Magnesium, sekundären Pflanzenstoffen und Ballaststoffen. Viele Mischköstler sind also „trotz“ ihrer Ernährung nicht optimal versorgt, vor allem weil sie zu wenig Obst, Gemüse und Vollkornprodukte essen.
Worauf müssen Vegetarier achten, um „klassischen“ Mangelerscheinungen wie zum Beispiel beim Eisen vorzubeugen?
Es gibt potentiell kritische Nährstoffe, auf die man als vegetarisch lebender Mensch etwas mehr achten sollte, weil es sonst vorkommen kann, dass man die Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr nicht erreicht. Bei einer vollwertigen vegetarischen Ernährung ist eine ausreichende Nährstoffversorgung problemlos umzusetzen, schwierig wird es nur bei Leuten, die wenig Frisches essen, dafür viel vegetarisches oder veganes Fast-Food mit hoher Energie- und niedriger Nährstoffdichte. Beim Eisen zeigen Studien seit 20 Jahren, dass eine Eisenmangelanämie, also eine Blutarmut, bei Vegetariern nicht häufiger vorkommt als bei Nichtvegetariern. Allerdings sind die Eisenspeicher von Vegetariern durchschnittlich niedriger als die von Fleischessern, aber in der Regel im Normbereich. Und das ist aus heutiger Sicht sogar von Vorteil, denn hohe Eisenspeicher erhöhen das Risiko für chronische Erkrankungen wie Dickdarmkrebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes Typ 2. Gute pflanzliche Eisenquellen sind Nüsse, Vollkorngetreide, Hülsenfrüchte, Tofu, Quinoa oder Fenchel. Grundsätzlich ist der persönliche Eisenstatus weniger eine Frage der Ernährung, sondern des Geschlechts, da Frauen durch die Monatsblutung regelmäßige Eisenverluste haben. Frauen sind somit, egal ob Vegetarierin oder Fleischesserin, eine Risikogruppe für Eisenmangel. Betroffene Frauen sollten in diesem Fall durchaus auf Eisensupplemente zurückgreifen, aber gleichzeitig auch die Eisenversorgung über die Ernährung verbessern. Auch Jod und Vitamin D sind kritische Nährstoffe, wobei hier die Gesamtbevölkerung nicht die Empfehlungen erreicht. Zur Verbesserung der Jodversorgung sollte man jodiertes Salz verwenden. Die Hauptquelle für Vitamin D ist die Sonne, da der Mensch durch UVB-Strahlung in seiner Haut selbst Vitamin D herstellen kann. In unseren nördlichen Breiten ist das zwischen Oktober und März allerdings kaum möglich, weswegen immer mehr diskutiert wird, ob man in den sonnenarmen Monaten Vitamin-D-Supplemente einnehmen sollte.
Was würden Sie einer Person, die von nun an vegetarisch Leben will, raten, um ihr den Einstieg in die neue Ernährungsweise zu erleichtern?
Das hängt ganz von der einzelnen Person ab. Viele stellen von einem auf den anderen Tag ihre Ernährung um, vor allem jüngere Leute. Ich habe das gemacht, als ich 18 war. Gerade bei jungen Menschen sind es vor allem ethische Motive, die sie zu der Entscheidung bringen, ab sofort keine Produkte von getöteten Tieren mehr zu essen. Ältere Menschen haben mitunter Verträglichkeitsprobleme durch den erhöhten Verzehr pflanzlicher Lebensmittel, inbesondere unerhitzter Frischkost. Dann spricht nichts dagegen, eine Umstellung schrittweise vorzunehmen. Man kann zum Beispiel mit einem vegetarischen Wochentag beginnen, den man dann schrittweise ausbaut. Zuerst lässt man die Wurst weg, dann das Fleisch und schließlich den Fisch. Gleichzeitig werden die gesundheitsfördernden pflanzlichen Lebensmittel mehr und mehr in den Speiseplan eingebaut. Vollkornvarianten von Reis, Brot oder Couscous, Kartoffeln und deutlich mehr Gemüse und Obst. Hülsenfrüchte sind ebenfalls sehr gute, preisgünstige und gesundheitsfördernde Lebensmittel, die große kulinarische Möglichkeiten bieten, sowohl in der mediterranen Küche als auch in der traditionellen Hausmannskost. Gerade ältere Personen finden hier altbekannte Gerichte, wie zum Beispiel einen deftigen Linseneintopf, den man problemlos mit Tofu statt mit Würstchen zubereiten kann. Hinzu kommen dann noch Nüsse, Ölsamen und kaltgepresste pflanzliche Öle.
Das Modell der Ernährungspyramide ist weithin bekannt. Sie haben zusammen mit Claus Leitzmann die Gießener vegetarische Ernährungspyramide entwickelt. Können Sie diese kurz vorstellen?
Wir haben die Pyramide für das Buch konzipiert. Sie ist die erste deutschsprachige, vegetarische Lebensmittelpyramide, die auch für Veganer geeignet ist und fasst in bildlicher Darstellung unsere Empfehlungen für eine gesundheitsfördernde, vegetarische Ernährung zusammen. Die Pyramide ist unterteilt in die verschiedenen Lebensmittelgruppen, größere Flächen symbolisieren größere Mengen. Die Abbildung wird ergänzt durch kurze Texte, in denen man entsprechende Mengenempfehlungen zur täglichen Orientierung findet. Der Bereich in der Spitze, zu dem auch Milchprodukte und Eier zählen, ist nicht notwendig und kann von Veganern weggelassen werden. In diesem Fall müssen andere Gruppen stärker ausgebaut werden.
Vielen Dank für das Interview!
Leitzmann, Keller: Vegetarische Ernährung
In der zweiten, komplett überarbeiteten Ausgabe ihres Buches „Vegetarische Ernährung“ geben Markus Keller und Claus Leitzmann einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Aspekte des Vegetarismus. Als wissenschaftliches Fachbuch richtet es sich an Studenten und Lehrpersonal aus dem Ernährungsbereich, ist aber auch für Laien geeignet, die sich für die vegetarische Lebensweise interessieren. Es beleuchtet die ernährungsphysiologischen Eigenheiten der pflanzlichen Ernährungsweise und deren Auswirkungen auf die Gesundheit, insbesondere in Bezug auf potentiell kritische Nährstoffe. Ergänzt werden die ernährungswissenschaftlichen Informationen durch Ausführungen zur Geschichte des Vegetarismus, globale Themenkomplexe wie den Klimawandel und die Welternährung sowie anschauliche Beispiele für eine gesundheitsfördernde vegetarische Lebensweise. Alle Ausführungen sind wissenschaftlich fundiert und ausführlich durch Quellen belegt. Das Buch ist im UTB Verlag erschienen und kostet 22,90 Euro.
Weitere Informationen zu den Autoren finden Sie auf den Seiten des Gießener Instituts für alternative und nachhaltige Ernährung, einen PDF-Download der vegetarischen Ernährungspyramide von Keller und Leitzmann finden Sie auf den Seiten des Vegetarierbundes (VEBU).